Bibliotherapie

Erst beim Schreiben dieses Buches wird mir so richtig bewusst, wie wichtig das Schreiben von Tagebüchern, Jahresrückblicken und Biografien ist. Menschen, die krank werden, auch dem Sterben nahe sind, spüren oft das Bedürfnis, ihren Lebenslauf für nachfolgende Generationen aufzuschreiben. Dies ermöglicht es den Schreibenden, im Rückblick Zusammenhänge besser verstehen und einordnen zu können und das eigene Leben, so wie es gewesen ist, dankbar zu würdigen. Somit kann dieses Rückblicken, Nachdenken und Schreiben auch heilend wirken und als Sinnsuche des eigenen Lebens gesehen werden. Es ist eine Möglichkeit, unseren Nachkommen mitzuteilen, was uns im Leben wichtig war, uns sehr berührte und weitergeholfen hat. So können sich unsere Kinder und Enkelkinder ein genaueres Bild davon machen, wie ihre Eltern oder Großeltern waren. Sehr oft höre ich Patienten sagen, dass sie wenig über das Wesen und Leben ihrer Eltern und noch weniger über das ihrer Großeltern, wissen. Beim Schreiben oder erzählen kannst du wieder zu dir selbst finden. Du siehst dich in der Krankheit nicht nur mehr als Kranker, sondern als Mensch mit Würde und Sinn. So kannst du deinem Leben noch einen Sinn geben, bevor du es irgendwann verlässt. Nach dem Motto: „Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt!“ In diesem Zusammenhang möchte ich dir ein mich tief beeindruckendes Buch empfehlen, welches ich auch all meinen Kindern geschenkt habe: „Last Lecture … Die Lehren meines Lebens von Randy Pausch. Der Autor wurde 1960 geboren und promovierte 1988 in Informatik und lehrte an der Universität von Virginia bis im September 2006 bei ihm ein Bauspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert wurde. Als Vermächtnis für seine kleinen Kinder hielt er im September 2007 seine später weltweit bekannte Abschiedsvorlesung mit dem Thema: „Meine Kindheitsträume und wie ich sie verwirklicht habe.“ Stern: „Ein berührendes Buch über Pauschs Krebserkrankung und den Mut zum Träumen.“

Schon jetzt, beim Schreiben dieses Buches und meiner Erlebnisse, erkenne ich mich selber immer deutlicher, beginne meine Vergangenheit und Entwicklung mehr wertzuschätzen und kann dir Gefühle und Erfahrungen mitteilen, die mir vorher noch nicht so bewusst waren.

Kürzlich berichtete mir meine lieb gewonnene Patientin, Helma, dass in ihrem Bekanntenkreis ein Mann an Krebs verstarb, der kurz zuvor seine eigene Abschiedsrede für die Beerdigung niederschrieb und seinem Pfarrer anvertraute. Als dieser sie vorlas, waren alle Angehörigen und Kirchenbesucher tief gerührt und hatten das Wesensbild des Verstorbenen bildhaft vor ihren inneren Augen. Helma besorgte mir die Rede und hier nun ein berührender Ausschnitte:

Danke an alle, die mich heute auf meinem allerletzten Weg begleitet und für immer von mir Abschied genommen haben. Die Schaufel hatte diesmal keinen Rand, wo ich mich dran festhalten konnte, nein diesmal bin ich heruntergefallen und das für immer. Ich hatte im Großen und Ganzen ein sehr schönes Leben und habe im Allgemeinen alles richtig gemacht und möchte euch über die 72 Jahre, die ich auf dieser Welt sein durfte, erzählen.“ Dann berichtete er sehr persönlich über die wichtigsten Personen und Erlebnisse in seinem Leben.

Hier nun ein Text, den ich gerne vorlesen lassen würde, wenn ich einmal abgerufen werde:

Ich bin frei! Trauert nicht um mich, denn ich bin frei. Ich folge dem Pfad, den Gott für mich vorgesehen hat. Ich nahm seine Hand, als er mich rief. Ich wandte mich um, und hinterließ Liebgewonnenes. Ich konnte keinen Tag mehr bleiben zum Lachen, Leben, Arbeiten oder Spielen. Dinge, die ich nicht vollenden konnte, müssen zurückbleiben oder von euch vollendet werden, denn am Ende des Tages fand ich meinen Frieden. Wenn mein Tod eine Leere hinterlassen hat, füllt sie mit frohen Erinnerungen. Eine hinterlassene Freundschaft, ein Lachen, einen Kuss, oh ja, dies vermisse ich. Seid nicht traurig, ich wünsche euch nur Gutes und Sonnenschein für euren weiteren Lebensweg. Mein Leben war voll. Ich hatte ein schönes Leben, gute Freunde, gute Erinnerungen, schöne Zeiten, die richtigen Eltern, eine sehr liebe Ehefrau, bewundernswerte und dankbare Kinder, ein Enkelkind, Geschwister und viele lieb gewonnene Patienten, die auch mich liebten. Vielleicht denkt ihr, die Zeit mit euch hier war nicht lang genug, aber macht sie nicht länger mit unnötiger Trauer. Hebt eure Herzen und seid froh mit mir, Gott wollte mich jetzt, er hat mich zu sich gerufen.“

Überlege nun auch du dir, ob du das Bedürfnis spürst, ähnliche Niederschriften anzufertigen und ob es dir gut tun könnte, dich mit dir und deinem Leben rückblickend zu beschäftigen.